Spiritualität für Ungläubige in Indien: Der goldene Tempel von Amritsar

Ein wohlbekannter „Geheimtipp“ in Nordwest-Indien:

In Amritsar musst Du im goldenen Tempel schlafen!

Den Teufel muss ich tun! Ich bin allergisch gegen „Du musst“ und gegen Spiritualität. Wegen einer gratis Übernachtung und kostenfreiem Essen schlafe ich nicht in einem Tempel.

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Tempeleingang

Ein Heidenkind im Tempel

Wenn Du im Nordwesten von Indien unterwegs bist, dann hörst Du unweigerlich vom goldenen Tempel in Amritsar, Harimandir Sahib. Andere Reisende schwärmen von dem berühmten Sikh-Heiligtum und liegen Dir damit im Ohr unbedingt eine Nacht in dem Tempel zu verbringen.

Eine Nacht in einem Tempel klingt für mich wie ein Alptraum. Mit Spiritualität kann ich nichts anfangen. Der Welt irgendeine Form von Übernatürlichkeit zu unterstellen empfinde ich als überflüssig und weglassbar. Mir reicht die Schönheit der Welt und der physikalischen Gesetze.

Ich komme in Amritsar an und suche mir ein günstiges Zimmer.

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Heiliger See

Konvertiert zur Spiritualität?

Einen Tag später stehe ich dann doch mit meinem Rucksack vor dem Schlafsaal des goldenen Tempels. Der Sikh, der hier Wache schiebt, sieht mich kurz an, nickt dann und weist mir wortlos lächelnd den Weg zum Schlafsaal für Ausländer. Ich bekomme ganz selbstverständlich ein Bett und ein Schließfach zugeteilt. Wieviele Nächte ich bleiben wolle? Eine oder zwei sage ich. Kein Problem!

Habe ich in nur 24 Stunden eine spirituelle Ader entdeckt? Nicht die Bohne. Du musst mit Spiritualität nichts am Hut haben um den goldenen Tempel als einen wundervollen Ort zu schätzen. Es ist mit Worten schwer zu fassen, warum ich 2 Tage lang so viele Stunden in dem Tempel verbracht habe und mich seitdem dahin zurück sehne.

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Tempelfassade

Kontemplation ohne Bullshit

Mit das Beste an dem Tempel ist, dass ein Besuch zu nichts verpflichtet, es gibt keine obligatorische Spende, wie sonst in Indien. Der goldene Tempel ist auch kein Meditationszentrum. Hier wird kein Yoga-Kurs verkauft und auch keine spirituelle Erwachung. Du wirst nicht von „Priestern“ gezwungen ein „traditionelles Ritual“ mitzumachen und dann um eine Spende erleichtert: „All credit cards accepted“

Egal ob Du Christ, Hindu, Muslim, Sikh, Atheist oder Agnostiker bist, Du darfst Dich einfach nur in Ruhe umschauen und die Atmosphäre aufsaugen – stundenlang wenn Du willst! Und Du willst stundenlang dort bleiben, denn der goldene Tempel lässt Dich nicht los!

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Tempelanlage

Einfach nur sein

Setze Dich wie die Pilger in den Schatten als Schutz vor der indischen Mittagssonne und genieße einfach zu sein. Schaue den Menschen zu und sieh Dich an der besonderen Sikh Gurdwara Architektur mit ihrer gold-weißen Farbgebung satt. Besuche anschließend das innere Heiligtum und laufe einmal, zweimal um den See. Besichtige das Museum und erkunde die riesige und ebenfalls wunderschöne Tempelanlage um die eigentliche Gurdwara.

Der goldene Tempel ist eine willkommene Flucht aus Indien. Es sind zwar zu jeder Tageszeit Tausende Sikh Pilger im goldenen Tempel, die Du an ihren farbigen Turbanen und ihrem ungeschorenen Barthaar erkennst. Aber das Gelände ist so riesig, dass keine indischen Verhältnisse aufkommen. Der Lärm, Gestank, Staub und das Menschengedränge Indiens könnte genausogut Millionen Meilen entfernt sein.

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Pilger

Live Musik 24/7

Die Schönheit dieses Ortes entsteht nicht zuletzt durch die Musik, die für eine einzigartige Stimmung am heiligen See sorgt. Die live Musik namens „Gurbani Kirtan“ wird überall im Tempel per Lautsprecher übertragen, hält sich aber schön im Hintergrund. 4 Musiker sitzen rund um die Uhr in dem inneren Heiligtum, spielen klassische Instrumente und singen dazu Verse aus dem heiligen Buch der Sikh.

Die Musik lullt Dich ein und tut ihr übriges, damit die Stunden verfliegen. Das geht sogar zu Hause, denn Gurbani Kirtan gibt es online im Sikh-Radio. Das Sikh-Radio überträgt die Lobgesänge aus allen wichtigen Sikh Tempeln (Gurdwaras) weltweit. Der goldene Tempel, Harimandir Sahib ist die wichtigste aller Gurdwaras und der geographische und spirituelle Mittelpunkt der Sikh.

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22 Stunden am Tag offen

Für das leibliche Wohl ist gesorgt

Ich mache den Tempel auch zu meinem Mittelpunkt und will ihn erst einmal nicht mehr verlassen. Dazu besteht auch gar kein Grund, der Tempel ist fast 24 Stunden am Tag geöffnet. An allen 4 Ecken gibt es Trinkwasser und am südöstlichen Ende ist eine riesige Kantine. Das Essen dort ist sehr einfach, aber auch Roti, Dal und Joghurt schmecken dank der einzigartigen Gefühlswelt sehr gut. Der Punjab hat angeblich die beste indische Küche.

Unzählige Helfer bereiten rund um die Uhr Essen vor, teilen es an die Pilger aus und spülen anschließend das Geschirr. Die Arbeitsaufteilung ist durchorganisiert bis ins Kleinste, sehr ungewöhnlich für Indien. Die Sikh sind sehr stolz auf ihre Geschäftstüchtigkeit. Indische Sikh sind im Schnitt wohlhabender als andere Inder und es ist ihnen von ihrer Religion aus verboten zu betteln.

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Freiwilligendienst

Frewillige vor, aber nicht alle auf einmal!

Das Bereitstellen von Essen ist für Sikh etwas Selbstverständliches. In jedem Sikh Tempel in Indien gibt es eine Essensausgabe. Das Essen wird auf Spendenbasis bereitgestellt: wer nichts hat, muss nichts zahlen. Die Logik dieser Großzügigkeit ist bestechend. Wenn Dein Magen knurrt, hast Du für die Lehren der Sikh kein offenes Ohr.

Alle Helfer im Tempel sind Sikh und selbst Pilger. Sie leisten ihren Dienst im Tempel freiwillig und wie es scheint mit großer Freude. So wie jeder Muslim einmal im Leben nach Mekka pilgern soll, soll jeder Sikh einmal im Leben eine Woche Dienst im goldenen Tempel tun. Bei rund 30 Millionen Sikh weltweit, hat der Tempel keinen Mangel an enthusiastischen Freiwilligen.

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Sonnenuntergang

Sikhs sind offen

Die Sikh behaupten offen gegenüber allen Menschen und Religionen zu sein und zumindest in ihren Tempeln scheint das nicht nur ein leerer Spruch zu sein. Vielleicht mag ich die Sikh und ihre Gurdwaras deswegen so sehr. In Kirchen, Moscheen und Tempeln fühle ich mich als Ungläubiger immer unwillkommen, obwohl Religionen eigentlich eine exotische Faszination für mich haben.

Ich werde von einem Sikh angesprochen, der sehr gut Englisch spricht. Er lebt in New York und will vor seinem Heimflug in 3 Stunden noch kurz den Tempel besuchen. Ich werde immer wieder im Lauf des Tages angesprochen. Ein Pilger will englisch üben, der andere ist nur neugierig. Anders als auf der Strasse in Indien macht es mir im Tempel nichts aus. Es ist unaufdringlich, die Menschen starren zur Abwechslung den Tempel an, nicht nur mich.

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Mondaufgang

Stolze Männer mit Turbanen

Am nächsten Morgen wache ich mit einem guten Gefühl und mit einer neugewonnenen Wertschätzung für die Männer mit den Turbanen im Schlafsaal des goldenen Tempel auf. Ich verlasse den goldenen Tempel nach 2 entspannten Tagen schweren Herzens. So stelle ich mir Spiritualität vor: Gebt mir einen wunderschönen Ort und meine Ruhe! Ich lasse mich zum Abschied zu einer ordentlichen Spende hinreissen.

Der goldene Tempel war mein diesjähriges Indien Highlight, vor allem in Verbindung mit dem Soldatentanz an der nahen Grenze zu Pakistan. Im internationalen Schlafsaal habe ich sogar andere Backpacker kennengelernt, eine Seltenheit in Indien. Neben einem Chilenen ausgerechnet aus Puerto Varas traf ich sogar einen passenden Reisepartner für den nächsten Streckenabschnitt nach Dharamsala.

Warst Du schon einmal in Amritsar und hast den goldenen Tempel gesehen?

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